Liebe deinen Nächsten, wie dich selbst

Diese Aufforderung Jesu ist neben der uneingeschränkten Liebe zu Gott eine der zentralen Formulierungen im Umgang der Menschen untereinander. Die aufgezeichnete und verbal überlieferte Geschichte machen uns aber deutlich, dass wir es hier mehr mit einem ehernen Wunsch, als einer Realität zu tun haben. Alles, was in den vergangenen Jahrhunderten und Jahrtausenden mit und vor allem in den Menschen geschehen ist, ist in seiner Ganzheit auch immer auf Disput und Zwietracht ausgerichtet. Und gerade auch jene, die die Liebe, vor allem zu Gott auf ihre Fahnen geschrieben haben, tragen ihren Teil zu dieser Trennung der Menschen von einander bei. Auch ist die gelebte Praxis von Schuld und Sühne der Liebe des Nächsten und sich selbst völlig entgegen gesetzt.

Wie geht diese Getrenntheit aber nun vor sich, zum einen im Großen, der mangelnden Liebe der Menschen untereinander, aber auch im Kleinen, dem Menschen als solchen zu sich, vor sich? Es ist fast wie die Frage danach, ob erst das Huhn oder erst das Ei da war. Aber erst zu ein paar Begrifflichkeiten;

Was ist Liebe, was verstehen wir darunter? Schon hier gehen die Meinungen auseinander. Liebe ist für den Einzelnen eine Sache, von der wir glauben, dass wir wüssten, was es ist. Da aber Glauben und Wissen nichts mit Liebe zu tun haben, da sie aus dem Kopf kommen, wir sie auch nie in unserem Leben bewusst erfahren haben oder den ehrlichen Versuch von Liebe durch eine andere Person nicht zugelassen haben, ist sie uns nicht wirklich bekannt. Liebe ist im Herzen und kommt aus diesem.

Tatsächliche Liebe ist Akzeptanz und Toleranz gegenüber dem anders Denken und anders Sein. Wenn ich in der Lage bin, Anderes, als nur mein Gedankengut zuzulassen, anderes Handeln akzeptiere und fähig bin, einen anderen Menschen frei zu geben, keine Erwartungen zu meinen Gunsten an ihn zu haben und ihn auch nicht für sein Handeln und Denken kritisiere, dieses beurteile oder gar verurteile, kann man in gewisser Weise von Liebe sprechen.

Wer ist mein Nächster, wer bin ich selbst. Bin ich mir nicht zunächst selbst der Nächste und dann kommen all jene, die von meinem Fleisch und Blut sind?! Wie gehe ich mit mir um, wie mit meinem eigen Fleisch und Blut?

Als Adam und Eva – nachdem Adam Lilith vertrieben hatte, bzw. sie es vorzog, zu gehen – im Paradies lebten, befanden sie sich in einer Einheit mit Gott, sie waren sich ihres Selbst nicht bewusst. Sie lebten bis zu dem Moment des Essens vom Baum der Erkenntnis, in dessen Ergebnis sie ihre Nacktheit erkannten, in Frieden und Eintracht. Das Erkennen der Nacktheit ließ sie einen Unterschied erkennen, der dann bewusst verhüllt und in der weiteren Folge verdammt wurde. Reden wir von der Frau, so reden wir noch heute von der Erbsünde. Gott nahm die Vertreibung aus dem Paradies vor. Noch heute leben wir alle in dieser vermeintlichen Schuld, der Erbsünde. Zum Einen gilt die Frau in den meisten Religionen der Welt als schlecht und unrein und wird auch in der Gesellschaft/Wirtschaft als zweitklassig, auch in ihrer Rolle als Mutter, behandelt und herab gesetzt und das staatlich und politisch sanktioniert. Offiziell wird das natürlich anders dargestellt.

Hinzu kommt, dass wir mit der Sünde in Schuld leben – das wird uns vermittelt – und mit der Schuld natürlich Strafe verbunden ist. Von wo kommt die Strafe, von Gott!!! Nun stelle ich mir die Frage, wie ich einen „lieben Gott“ lieben soll, wenn er mir ständig Sünde vorwirft und gleichzeitig Strafe androht, wenn ich ihm nicht zu Gefallen bin. Abgesehen davon, dass Gottes Vertreter auf Erden viele Dinge mehr als sündig bezeichnen und mit Strafe bedrohen, als es Gott selber oder Gottes Sohn getan haben.

Ist die Frage: Leben wir in Liebe zu Gott, der uns kritisiert, schuldig spricht, Angst macht und seinen Zorn in uns leben lässt oder leben wir mehr in Furcht vor Bestrafung wegen vermeintlicher Sünden mit ihm? Es kann niemand lieb sein, bzw. lieben, wenn er das anders Denken, was vor dem anders Sein kommt, nicht akzeptiert. Also ist unsere Liebe zu Gott, gleich welcher Religion, mehr eine Furcht vor seinem Zorn und der damit verbunden Strafe, wenn wir ihm nicht gefallen?

Kommen wir nun zu dem “… Nächsten, wie Dich selbst“. Aber auch hier steht die Frage: Wie beginnen?

In dem wachsen des Fetus im Mutterleib entsteht ein neuer Erdenbürger, der aber eben über die Nabelschnur mit der Mutter verbunden, obwohl ein eigenes Wesen, mit der Mutter eins ist. Mutter und Kind sind eins. Der Mutterleib ist ein Teil des Paradieses, zu der Zeit das Paradies. Mit der Geburt erfährt dieses Paradies für das Kind dramatische und offensichtlich auch in nahezu 100 % der Fälle traumatische Veränderungen. So, wie die Mutter den Geburtsschmerz „vergisst“, vergessen wir auch alles Drama und Trauma der Geburt. Es hat sich aber in uns eingebrannt und wird irgendwann abgerufen. Aber noch immer ist das Kind – jedes Kind – in seinem Empfinden eins mit der Mutter, es ist sich seines Selbst nicht bewusst. Es ist wie bei Adam und Eva, sie waren sich ihres Selbst nicht bewusst.

Was braucht nun aber dieses kleine Wesen neben der Nahrung, bzw. mit der Nahrung am meisten? Liebe, Wärme und Zuneigung. Bereits hier beginnen Wahrnehmungen, die dem Kind signalisieren, ob es im Paradies verweilen darf oder bereits auch ohne die Selbsterkenntnis die Vertreibung aus dem Paradies begonnen hat.

Mit dem Heranwachsen des Kindes nimmt es seine Umwelt, vor allem das Verhalten der Mutter, aber auch des Vaters wahr. Das Kind selber ist einfach nur Liebe, es nimmt kritik- und urteilslos das Verhalten der Eltern hin. Die gegebene Liebe und Zuneigung wird aufgesogen. Allerdings führt das Verhalten der Eltern schon zu ersten „Selbsterkenntnissen“, die sich in gar nicht so viel späterem Verhalten manifestieren. Die Eltern ihrerseits haben natürlich auf Grund eigener kindlicher Erfahrungen und gesellschaftlicher Umstände Vorstellungen von der Art und dem Umfang, zu gewährender Liebe. Das Kind spürt aber körperlich sehr wohl, ob es geliebt, geduldet oder abgelehnt ist.

Mit dem Heranwachsen und all dem dudu, dada und daidai beginnen nicht nur die Eltern, sondern auch andere zum „Kreis der Lieben“ gehörende Personen, das Verhalten des Kindes in ihrem Sinne zu „lenken und zu leiten“ Bei Gefallen wird Liebe gegeben, bei nicht Gefallen, wird Liebe entzogen. So nimmt der Prozess der Erziehung seinen Lauf. Mit zunehmender Beweglichkeit des Kleinkindes – sitzen, krabbeln und laufen, aber auch dem sauber werden – nehmen bei aller Freude die Aktivitäten in der unbeschränkten Bewegung des Kindes die Einschränkungen schon zu, sowohl verbal, wie auch durch praktisches Handeln. Das Kind darf jetzt nicht mehr sein, wie es ist oder will, jetzt beginnt der Prozess der „Erziehung“. Die eigenständige Eroberung der Welt wird durch Warnhinweise (pass auf, Du fällst hin), Verbote (da darfst Du nicht hin), geringe körperliche Gewalt (das fasst Du nicht an) und anderes mit Kritik, Schuld und Angst eingeschränkt. Und wenn das alles nichts nutzt, wird bestraft, verbal: Du bist nicht lieb oder Mamma hat Dich jetzt nicht lieb; dem Klaps auf den Po oder die Finger und nicht zuletzt dem Liebesentzug, indem das Kind weggesperrt wird.

Mit der bewussten Entdeckung der Welt beginnt die Selbsterkenntnis, das Entdecken des eigenen Namens, des eigenen Bildes im Spiegel und damit die Ausprägung des EGO. Wir merken, dass wir anders sind, wir uns von anderen unterscheiden. Damit beginnt das Verdecken und Bedecken, nach Außen die Darstellung einer Person, die wir gar nicht sind. Das Ergebnis ist, dass damit auch die endgültige Vertreibung aus dem Paradies begonnen hat. Die Eltern als „lieber Gott“ hören auf zu existieren, sie werden zu dem „lieben, bösen Gott“. Und hier stellt sich dann wieder die Frage: “Wie kann ich jemanden wirklich lieben, der mit Strafe droht, der mich schuldig spricht, der mich kritisiert, weil ich anders bin, der mich seinen Zorn spüren lässt und mir Liebe entzieht. Das Kind erkennt sich als nun getrennt von der Mutter, dann auch dem Vater und erfährt nun ganz praktisch jeden Tag den Mangel in der Akzeptanz von anders Sein und anders Denken. Es wird wie im Großen bei den Religionen und der Politik zur Übernahme der Denk- und Verhaltensmuster angehalten und durch die Androhung von Strafe in die vermeintlich richtigen Bahnen gelenkt.

Der Prozess von Kritik, Schuld und Angst beginnt, wie beschrieben schon im Kleinstkindalter, in einer Zeit, in der der Betreffende gar nicht einschätzen kann, wie viel Wahrheit an dem ist, was ihm vorgeworfen oder vorgehalten wird. Da jedes Kind glaubt, dass sich die ganze Welt nur um seine Person dreht, hat es nur die Möglichkeit, dass alles auf sich zu beziehen und die Dinge anzunehmen. Es entstehen daraus Glaubenssätze, wie z. B. „Ich bin nicht gut genug“, „Ich bin nicht liebenswert“, „Ich bin nicht richtig“, „Das habe ich nicht verdient“ und andere Glaubenssätze, die aus Mangel entstehen und diesen ausdrücken.

Genau dieses „Ich bin nicht …!“ ist letztlich das, was uns unbewusst untersagt, sich selber zu lieben. Wir ziehen es vor, uns schuldig zu fühlen, uns zu kritisieren, Angst zu haben und zornig zu sein. Wir identifizieren uns mit dem uns vermitteltem Bild von uns und glauben an seine Realität. Wir verinnerlichen es so sehr, dass wir es so leben, als stünde es, für jeden lesbar, uns auf die Stirn geschrieben. Wir leben es in der Schule, auf der Arbeit, bei Freunden, in der Familie und in allen zwischenmenschlichen Beziehungen und Kontakten. Wir halten uns selber für minderwertig. Aus diesem Minderwertigkeitskomplex ist es nur logisch, in dem Bemühen, sich zu unterscheiden, uns besser, vollkommener, liebenswerter als den gegenüber darzustellen. Wer möchte sich in der Unterscheidung schon schlechter darstellen, wer will nicht Sieger sein. In diesem Prozess wird jeder Andere als Konkurrent betrachtet und muss in der Auseinandersetzung schlechter aussehen.

Wir haben nunmehr ein völlig falsches Bild nicht nur von uns, sondern auch von der Liebe. Wir glauben, dass zur Liebe Kritik, Schuld, Angst und Zorn gehören und dass uns ein Mensch dann wirklich liebt, wenn er sich – so, wie wir uns unseren Eltern – uns anpasst, sich für uns ändert, uns zum Gefallen ist, so denkt und handelt, wie wir. Liebe kommt aus dem Herzen und ist einfach da, wenn wir sie zulassen. Was wir glauben, was Liebe ist, kommt aus dem Kopf und wägt immer ab. Kritik und Schuld sind im Kopf, Angst entsteht im Kopf, wenn wir aus den Erfahrungen der Vergangenheit in die Zukunft denken und Zorn und Groll hält alle bösen Erinnerungen in uns fest und tötet Liebe ab. Liebe ist immer genau in dem Moment, in dem wir jetzt sind, den wir leben und der Moment ist einfach immer vollkommen.

Machen wir uns also frei von der Kritik gegenüber uns selbst. Jede Entscheidung, die wir für uns treffen, ist immer die richtige, weil wir sie in dem Moment mit dem besten Wissen getroffen haben. Das wir morgen mehr wissen und anders entscheiden würden ist uninteressant, wir stehen zu uns. Nicht werten und bewerten, nicht urteilen und beurteilen, sondern einfach zulassen. Kritisieren wir uns selber nicht, können wir auch andere so sein lassen, wie sie sind.

Stehen wir zu unseren Entscheidungen selbstbewusst und erkennen unseren eigenen Anteil am Gelingen und oder geglaubten Misslingen, so brauchen wir kein Schuldgefühl. Alles im Leben ist ausschließlich dazu da, zu lernen und zu wachsen. Es greift Eins in das Andere, für alles, was uns wiederfährt, haben wir selber den Grundstein gelegt, es in unser Leben gezogen.

Erkennen wir, dass es keinen Menschen gibt, der uns tatsächlich böses will, sondern er ebenso seine Muster lebt, wie wir unsere, er seine Wahrheit hat, so wie wir unsere, können wir anderes Handeln zulassen. Geben wir, ohne zu erwarten, können wir auch nehmen, ohne enttäuscht zu sein. Ohne Enttäuschung und Verletzung und die Fähigkeit, zu verzeihen, können wir frei von Zorn und vor allem Groll durch das Leben gehen. Mit Dingen, die uns in der Vergangenheit missfallen haben, können wir ganz anders umgehen und sie annahmen, an ihnen wachsen.

Lernen wir es, im Hier und Jetzt zu leben, können wir uns von den Ängsten befreien. Fast alle Ängste sind eingebildete, virtuelle Ängste. Sie entstehen, weil wir mit unseren Erfahrungen aus der Vergangenheit, vor allem der Kindheit, in der Gegenwart über die Zukunft nachdenken. Angst hat immer etwas mit den Gedanken in die Zukunft zu tun. Reale Angst ist nur bei Lebensbedrohung gegenwärtig und die erleben wir hier kaum. Werden wir uns des Augenblicks bewusst, denn uns fehlt im Augenblick nichts, nur wieder im Gedanken an die Zukunft.

Da wir selber niemals diese Akzeptanz und Toleranz erfahren haben, bzw. ein solches Verhalten gar nicht als Liebe erkennen können, ganz zu schweigen davon, es anzunehmen, können wir uns von anderen nur abgrenzen. Abgrenzung hat aber eben immer etwas mit Schutz und Verteidigung zu tun und nie mit Liebe.

So ist es nur verständlich, dass wir, da wir selber uns nicht lieben, weil wir uns für mangelhaft halten, andere auch nicht lieben können. Liebe setzt voraus, sich selber aus einem gesunden Selbst heraus für den Moment vollkommen zu halten und es dem Anderen ebenso zuzubilligen. Das die Vollkommenheit morgen eine andere ist als heute, ist nur normal.

In diesem Sinne erlebt der Mensch die Erbsünde auf seine Weise und damit verbunden die Vertreibung aus dem Paradies. Die biblische Geschichte von dem Baum der Erkenntnis ist tägliches Abbild in den familiären Beziehungen und wird von Generation zu Generation weiter gegeben. Mit dem fortschreitenden Verlust an Liebe werden auch die zwischenmenschlichen Beziehungen immer mehr entfremdet und intoleranter. Die hohen Scheidungsraten, die zunehmenden Singelhaushalte, die vermeintlich lieblosen und gestörten Kinder, alles Folgen der nicht vorhanden Nächstenliebe, dem Mangel an Erkenntnis von Liebe überhaupt. Der Glaube an liebevolle Eltern ist fast ausnahmslos ein Irrglaube, wenn wir uns mit dem befassen, was Liebe tatsächlich ist.

Alle Krankheiten des Geistes haben ihre Ursache in einem Mangel an Liebe. Der Mangel an Liebe führt zu den Grundformen von Angst, die sich bis in die Krankhaftigkeit ausprägen können.

Das Fehlen im Wissen um die Liebe und der Mangel an Erfahrungen um tatsächliche Liebe führen zu einem geringen Selbstwertgefühl und Selbstachtung. Auswirkungen dessen erleben wir im Privaten ebenso, wie in der Arbeitswelt. Die Geringschätzung der Arbeit anderer und die völlige Überschätzung der eigenen Leistungen, vor allem im Management, führen zu unrealistischen, total überhöhten Managergehältern, Boniregelungen und den unrealistischen Aktienkursen mit kurzfristiger Gewinnsucht. Weil Bewerber eben ein Mangelgefühl haben, verkaufen sie sich für geringes Geld und geben damit ihrem Denken wieder einmal recht. Manager führen sich auf wie Könige, selbstherrlich, fast göttlich in ihrer Meinungsäußerung und Machtausübung und der Bewertung der Leistungen ihrer Mitarbeiter. Mitarbeiterführung geschieht fast ausschließlich autoritär und hat nichts mehr mit gegenseitiger Achtung und Wertschätzung zu tun. Aus eigener Geringschätzung legen sie keinen Wert mehr auf die Meinungen anderer. Weil wir glauben „ich bin nicht…“ haben wir Authentizität gegen das Rollenspiel eingetauscht und blenden uns und unsere Umwelt. Am Ende sind wir enttäuscht, wenn wir etwas anders bekommen, als wir erwartet haben.

Finden wir wieder Zugang zu unseren Gefühlen, haben wir eine Chance, wieder wir selbst zu werden. Sind wir wir selbst, können wir uns vertrauen und uns für das, was wir denken und tun lieben. Lieben wir uns selbst, können wir auch unseren Nächsten anerkennen und lieben. Wir ändern die Welt nicht im Großen, sondern nur in uns und haben nur darüber Einfluss auf das ganze.