Der Irrglaube von Erziehung

Ist Erziehung das, was wir uns darunter vorstellen?!

Es ist ein Irrglaube, daran festzuhalten, dass Erwachsene durch Erziehung das geworden sind, was sie sind und ebenso wenig  erziehen Erwachsene tatsächlich ihre Kinder. Sicherlich gibt es bei rückblickender Betrachtung der Eltern oder auch der erwachsenen Kinder Momente, in denen man feststellt, dass die Erziehung doch „aufgegangen“ sei, aber auch das ist dann nur oberflächlich betrachtet.

Nehmen wir einfach den Begriff „Erziehung“. Zerlegen wir ihn, so bleibt auf alle Fälle das „Ziehen“ als wesentlicher Bestandteil stehen. Wir ziehen an Etwas herum, nach links, nach rechts, oben oder unten, aber wir lassen das Etwas nicht in seiner ursprünglichen Form. Im Garten ziehen wir auch Pflanzen, indem wir sie beschneiden, in eine  uns gefallende Form bringen, sie nach Belieben einkürzen und verbiegen. Mit viel Aufwand glauben wir etwas pflegeleicht zu machen oder uns zum Gefallen. Einen gewissen Wildwuchs empfinden wir als unkultiviert, nicht sehenswert.  Wächst das Gras etwa schneller, wenn wir daran ziehen, ich glaube nicht. Jedes „Unkraut“ muss weg. Eine der kultiviertesten Formen ist der Bonsai.

Aus meinem persönlichen Erleben im Elternhaus, der Erziehung meiner Kinder, dem Zusammenleben mit Lebenspartnerinnen, aber auch dem täglichen Erleben im Umfeld wage ich zu behaupten, dass Erziehung zu über 95 % der Fälle nichts anders ist, als den ursprünglichen Willen der Kinder durch wenigstens einen Elternteil zu brechen. Das heißt, sie uns als Erwachsenen gefügig zu machen, eben einfach pflegeleicht. Oftmals sind die angeblich lieben Kinder einfach nur „abgerichtet“ oder „gut dressiert“, sind sie unbeobachtet, lassen sie die S… raus.

Ich möchte den ganz natürlichen Bestrebungen, wie dem „sauber sein“ und Essen vom Teller und dann auch mit Besteck nicht entgegen reden, das hat mit der Erziehung im eigentlich charakterlichen Sinne wenig zu tun. Auch geht es nicht um das Verstehen bestimmter Normen. Aber was sind Normen, wollen wir den Menschen in seinem Verhalten auch nach DIN EN ISO zertifizieren. Kann man nicht sagen, dass, was anderen nicht physisch und/oder psychisch schadet, menschlich und damit akzeptabel ist.

Wird ein Kind geboren, so kommt es zweifellos mit bestimmten Veranlagungen, Mentalitäten zur Welt, aber es hat bestimmt keinen Charakter, der wird dann ausgeprägt. Jeder Mensch wird ab der ersten Stunde seines Lebens mit seinem personellen Umfeld konfrontiert. Bereits in der Schwangerschaft werden Ereignisse aus dem zukünftigen Elternhaus „wahrgenommen“ und „hinterlassen“ Spuren.

Womit wir unverändert zur Welt kommen, sind unsere Gene und das soziale Umfeld, die Konditionierung, die uns zu Teil wird. Aus beidem können wir heraus, frühestens als Erwachsener, wenn wir unser Drama erkennen.

Ich möchte zur Veranschaulichung ein seit langer Zeit praktiziertes Beispiel nutzen. Unbewusst entlarvt es unser Denken. Jeder von uns besucht Museen, Bildergalerien und erfreut sich an der Schönheit der Bilder. Nicht selten begegnen uns dabei die Darstellungen der Reichen und Schönen aus den vergangen Jahrhunderten, dieses oder jenes Herrscherpaar mit seinen zahlreichen Kindern.

Sehen wir uns Aufnahmen unserer eigenen Familien, auch aus der jüngsten Vergangenheit an, die besondere Familienhöhepunkte festhalten, so können wir bei der Betrachtung vor allem der Kinder eines feststellen. Sowohl damals, als auch heute wurden die Kinder „schick“ gemacht. Und wie sah und sieht dass „Schickmachen“ aus? Kinder werden in allen Details gekleidet, wie Erwachsene. Sie tragen ein tolles Hemd, Binder oder Fliege, gar noch einen Anzug und Lackschuhe. Wir machen aus ihnen kleine Erwachsene, hier nur äußerlich. In uns erwarten wir aber, dass sie innerlich auch möglichst schnell erwachsen werden, selbstständig handeln können. Wir erwarten, dass sie machen, was wir ihnen sagen und möglichst gleich und sofort beim ersten Mal machen, was wir sagen. Tun sie es nicht, so sind wir 5 Minuten später und bei der dritten Aufforderung gereizt, genervt und nicht selten ungehalten.

Was ist denn nun aber das, was da tatsächlich geschieht?! Wir alle können uns daran erinnern und haben es bei unseren Kindern festgestellt. Kinder wollen heraus bekommen, wie sie bei wem etwas erreichen. Entsprechend dem Widerstand der Erwachsenen ziehen sie daraus ihre Schlussfolgerungen. Diese sind innerhalb der Familie sicherlich personenbezogen unterschiedlich, aber immer darauf ausgerichtet, ein Ziel zu erreichen, auch wenn es ein Minimalziel ist. Dazu nutzen sie Fragen, Betteln, Jammern, Heulen, das Böckchen und was ihnen sonst noch so einfällt. Was zum Erfolg führt, wird als „erfolgreich“ abgespeichert.

Haben Kinder etwas gemacht, was die Anerkennung der Eltern oder anderer wichtiger Personen findet, gleich, ob die Anerkennung verbal ist oder materieller Natur, wird das auch als „erfolgreich“ abgespeichert. Alles, was an Informationen zu einem Ergebnis führt, wird „abgespeichert“ mit der Zusatzinformation „ich habe mein Ziel erreicht!“

Aus dieser „Verarbeitung“ der Informationen und deren für uns positiven oder negativen Resultaten entstehen in uns Verhaltensweisen und Bilder, die uns sagen, wie wir sein sollten, um Erfolg zu haben. Wir schaffen uns also unbewusst ein Wesen in uns, das nach Erfolg versprechenden Denk- und Verhaltensmustern lebt. Da sich diese Muster in aller Regel bewährt haben, haben sie den angenehmen Nebeneffekt, uns  vor vermeintlichem Schmerz und Verlust zu schützen. Die Denkmuster sind zunächst noch geringer, als die Verhaltensmuster. Letztlich beginnt aber irgendwann die Entstehung von Glaubenssätzen.

Die Verhaltensmuster können wir u. a. sehen, wenn kleine Kinder Mutter, Vater und Kind spielen, wie die Rollen verteilt sind und wer dann was zu sage und wie zu handeln hat. Oder wenn Kinder im Spiel bestimmt Rollen übernehmen wollen, weil sie sich mit deren Handlungen besonders identifizieren.

Mit den zunehmenden Fähigkeiten der Kommunikation, den Fragen „warum … ?“ und den dann von den Erwachsenen kommenden Antworten werden auch mehr und mehr Denkmuster vermittelt und verfestigt. Diese Denkmuster schlagen sich zunächst in der Auswahl von Spielgefährten, Freunden und der Wahl von Spielen nieder.

Dieses kindliche Verhalten ist in gewissem Maße ein selektives Verhalten. Es verinnerlicht, was zum gewünschten Ziel führt und streicht, was auf Dauer nicht den Erfolg bringt. Das dabei der Erfolg von heute bei den Eltern und Geschwistern den Misserfolg von morgen in einem anderen personellen Umfeld birgt, ist durchaus unter unseren heutigen mitteleuropäischen Denkmustern selbstverständlich. Mit dem Streichen der Möglichkeit wird auch die Auswahlmöglichkeit verringert. Es erscheint in anderen Situationen mit anderen Menschen gar nicht mehr die Variante in unserem Kopf, bzw. wählen wir aus Angst vor Versagen die Variante schon vorher ab.

Ich möchte noch einmal zum Ausgangsgedanken zurück. Mit dem Heranwachsen des Kindes im Mutterleib sind wir uns bewusst, dass hier ein neuer Erdenbürger entsteht, ein neues menschliches Wesen. Wir sind uns nur nicht dessen bewusst, dass dieses Individuum zwar ein Teil von uns, aber eben doch völlig verschieden von uns ist. Dieses anders sein versuchen wir nach und nach zu verändern. Dazu nutzen wir vor allem Methoden, die den anderen kritisieren, ihn ängstigen, in zornig oder wütend machen und er sich schuldig fühlt. Diese vier – Kritik, Schuld, Zorn und vor allem Angst – begleiten uns unser ganzes Leben und werden so, wie wir sie in differenzierter Form verinnerlicht haben, durch uns wieder gegen andere Personen genutzt. Unsere eigene Begrenztheit nutzen wir, um andere in unsere (nicht in ihre) Schranken zu verweisen. Nicht selten müssen sich Erwachsene im besten Alter von ihren Eltern noch behandeln lassen, wie Kinder, weil beide Seiten nicht realisieren, dass sie alle 30 oder 40 Jahre älter und vielleicht auch reifer geworden sind.

Was in der Kindheit mit dem kritischen Verhalten der Eltern (unter dem Vorwand, doch nur das Beste für die Kinder zu wollen) beginnt, setzt sich im späteren Leben fort. Wir bekommen immer und überall vermittelt, unvollkommen, unvollständig, mangelhaft zu sein. Aus diesem sich mangelhaft entwickelnden Selbstbewusstsein heraus sind wir auch nicht in der Lage, uns selbst anzuerkennen und so, wie wir sind, zu lieben. Wir wollen so sein, wie der andere, bloß nicht wie wir selbst. Das der andere für sich auch Mängel empfindet, mit sich unzufrieden ist, kommt uns gar nicht in den Sinn. Aus dieser mangelnden Selbstliebe und Anerkennung heraus müssen wir andere schlecht machen, sie erniedrigen, um uns selber zu erhöhen, um unsere eigene geglaubte Unvollständigkeit nicht war zu nehmen.

Diese mangelnde Selbstliebe – Selbstliebe nicht zu verwechseln mit Egoismus – führt zwangsläufig zu Selbsthass und damit zur Ablehnung des anders Seins, zu Missgunst und Neid, selbst gegenüber dem Partner und den eigenen Kindern.

Das Ergebnis aller Erziehung ist, dass der Mensch mit den vielfältigsten Mitteln vom Windelalter an so erzogen wird, dass er sein Selbst verliert und das o. g. Wesen, das  Ego aufbaut. Das Ego ist nichts anderes, als ein Bild, dass der Mensch von sich selber geschaffen hat und dass ihm vermittelt, wie er scheinbar zu sein hat, um scheinbar erfolgreich zu sein. Dieses Ego kann in seiner Grundausrichtung z. B. haben:

  • Ich muss viel und hart arbeiten
  • Nur der Erfolgreiche wird anerkannt
  • Ich muss den Erfolgreichen spielen
  • Ich muss streng und hart sein
  • Ich muss mich selbst aufopfern, um Liebe zu erhalten
  • Ich kann und will nichts entscheiden
  • Ich muss alles kontrollieren um Macht zu haben

Mit allem, was diese Person tut, tut sie nur dass, was ihrem Ego gut tut – mein Haus, mein Auto, mein Pferd, mein … – das Selbst bleibt dabei unerkannt und unberücksichtigt.

Der Mensch strebt nach Anerkennung dessen, was er hat und ist mit dem, was er hat immer unzufrieden. Wir verwechseln „Haben“ mit „Sein“, wir glauben, etwas zu sein, weil wir etwas haben. Haben macht unzufrieden und nicht genug haben unglücklich und lässt den Menschen neben sich mit Geringschätzung bewerten.

Worin liegt nun die Alternative? Grundsätzlich können wir die Andersartigkeit eines Menschen nur dann annehmen, wenn wir uns selber so annehmen, wie wir sind, uns nicht ständig ein Gefühl von körperlichem, geistigem oder sonstigem Mangel einreden. Haben wir erkannt, dass wir so, wie wir heute sind, vollständig sind und morgen einen weiteren Schritt vorankommen, haben wir eine Möglichkeit, zu uns zu finden. Wollen wir bei einer anderen Person eine Veränderung erreichen, so geschieht dies nie durch verbale Attacken, Vorhaltungen oder gar körperliche Gewalt. Wir möchten uns im anderen spiegeln und wir tun das automatisch, aber am liebsten mit uns angenehmen Personen. Also zeigen wir durch unser Verhalten, was wir möchten, verändern wir uns, so wird uns der andere folgen. Das funktioniert auch und schon mit Kindern. Kinder lernen durch Handlung mehr, als durch Worte. Wenn das Handeln und Reden dann auch noch bewusst erfolgt, so ist der Prozess des Werdens noch wesentlich erfolgreicher, als unser zu über 90 % unbewusstes Handeln.

Haben wir mit uns selber unseren inneren Frieden geschlossen, so besteht in dem Wissen darum, unser Selbst zu kennen, die Möglichkeit, mit der angeblichen, geglaubten Unvollständigkeit des Partners/Kindes leben zu können – nach dem Grundsatz „Ich bin OK, Du bist OK!“

So, wie sich Menschen ähnlich sehen können, sind sie doch nicht gleich, auch eineiige Zwillinge nicht. Wenn zwei Menschen den gleichen Vornamen haben denken sie nicht gleich, auch nicht bei gleichem Nachnamen und bei gleichem Vor- und Nachnamen können wir das auch nicht erwarten. So, wie jeder Mensch ein einzelnes Individuum ist, so einzigartig ist sein Denken und Verhalten. Wir haben es uns nur abgewöhnt, das zu erkennen. Wir möchten in dem Anderen immer nur das sehen und haben, was uns nutzt, im Privatleben ebenso, wie im Berufsleben. Womit wir scheinbar nicht zu recht kommen, weil wir es nicht gelernt haben, tolerant zu sein, wollen wir dem anderen abgewöhnen, ihn umerziehen.  Wir wollen den pflegeleichten, massenkompatiblen immer angepassten Mitmenschen haben. Das für jeden die Qualität „pflegeleicht“ anders definiert ist, muss sich uns noch erschließen.

Dort, wo wir glauben, zu erziehen, unterliegen wir einem Trugschluss. Entsprechend den frühesten Erfahrungen verhalten wir uns immer so, dass wir mit unserem Verhalten Liebe und Anerkennung bekommen. Liebe ist zunächst durch körperlichen Kontakt gegeben, durch Wärme und Nähe und Nahrung. Anerkennung kann dann das liebe Wort, die Süßigkeit, das Spielzeug sein und auch dass ist für das Kind alles ein Ausdruck von Liebe. So, wie uns alles das widerfährt, bauen wir uns ein Bild und ein Muster und nach diesem leben wir, viele mit wenigen, manche mit vielen Veränderungen. Wir werden also nicht was wir sind wegen der Erziehung, sondern viel mehr trotz der Erziehung und trotz/Trotz hat hier eine doppelte Bedeutung.

Wer also glaubt, zu erziehen, erreicht nur Angepasstheit. Wer angepasst ist, ist wenig oder gar nicht authentisch und ist überall und nirgendwo zu Hause. Angepasst ist das Chamäleon, das aber selbst vor einem farbigen Hintergrund so angepasst ist, dass es uns farblos erscheint.

Betrachten wir unser Verhalten als Erwachsene, so können auch wir für uns feststellen, dass wir uns nicht erziehen lassen, weder vom Partner noch den Kollegen oder Chefs und es auch gar nicht wollen. Wenn, dann tun wir es selber, weil wir es wollen, für uns wollen und als richtig und notwendig erkannt haben. Solange wir uns aber mit bloßer Anpassung im Leben zu Recht finden und die Anerkennung bekommen, die wir brauchen, halten wir an dieser Anpassung fest.